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Montag, Dezember 15, 2025
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Als das Weihnachtslicht unsere Erinnerungen weckte

Ein verschwundener Ordner, alte Familiengeschichten und das Glöckchen, das jedes Jahr die Kindheit zurückholt.

Wie in jedem Jahr sitze ich mit meinen kleinen Cousinen im Kinderzimmer oben bei Oma Mia im alten großen Haus mitten im Dorf. Unsere Eltern sind unten in der Küche oder im Wohnzimmer, dort herrscht ein ruhiges Durcheinander aus Stimmen, Klappern und gelegentlichem Lachen. Wir Kinder warten auf das Glöckchen. Erst wenn sein heller Klang durch das Haus schwebt, dürfen wir die Treppe hinuntergehen. Dann beginnt Weihnachten wirklich.

Doch im Kinderzimmer herrscht alles andere als Stille. Emine und Sophia, die beiden Töchter von Tante Dani, liefern sich einen ziemlich entschlossenen Streit um ein Haargummi. Liah, die Tochter von Tante Nati, singt fröhlich und zum zwanzigsten Mal dasselbe Weihnachtslied. Mathea sitzt mit ernster Miene in der Spielecke und spielt Mutter Vater Kind. Ich selbst sitze auf dem Bett, dem Bett, auf dem schon jedes Enkelkind unzählige Male geschlafen hat, und scrolle ohne viel nachzudenken durch TikTok.

„Nele, spielst du mit“, ruft Mathea plötzlich.

„Gleich“, sage ich, stecke das Handy weg und sehe sie an.

Sie tritt vor mich, verschränkt die Arme und mustert mich streng. „Aber diesmal ohne Handy. Versprochen.“

Ich seufze gespielt dramatisch und nicke. „In Ordnung. Aber heute bin ich nicht das Kind.“

„Nein“, entscheidet sie sofort. „Heute bist du die Mama. Und du musst mir etwas vorlesen, weil ich schlafen soll.“

Ich gehe zum alten Bücherregal. Dort stehen Bücher, die so häufig gelesen wurden, dass ihre Ecken weich geworden sind. Einige stammen sicher noch aus der Kindheit meiner Mutter. Der Struwwelpeter wirkt darin fast modern. Ich suche nach etwas, das nicht zu lang und nicht zu bekannt ist. Emily Erdbeer wäre heute eindeutig zu viel. Mein Blick wandert über alte Fotoalben und vergilbte Mappen und bleibt an einem dicken beigen Ordner hängen. Er wirkt, als hätte ihn seit Jahrzehnten niemand angefasst. Ein bisschen Staub glitzert sogar im Licht.

„Was ist das denn“, fragt Mathea sofort neugierig.

„Ich weiß es nicht“, antworte ich. „Ich glaube, ich habe den Ordner hier noch nie gesehen.“

Ich setze mich aufs Bett, lege den Ordner vor uns und schlage ihn vorsichtig irgendwo in der Mitte auf. Kaum ist die erste Seite sichtbar, tauchen auch Emine, Sophia und Liah an meiner Seite auf. Der Streit verstummt. Das Singen endet. Alle schauen auf die Bilder vor uns.

Auf dem ersten Foto erkennen wir meine Mutter als kleines Kind. Unter dem Bild steht ihr Name, mit einem Stift geschrieben, dessen Farbe fast vollständig verblasst ist.

„Das ist deine Mama“, stellt Liah fest.

Ich nicke. „Ja. Ich erzähle euch, wie ihre Adventszeit früher war.“

Im Ordner stehen nur wenige Worte. Jahreszahlen. Kurze Notizen. Manche Seite enthält nur ein einziges Foto. Doch ich kenne viele dieser Geschichten, denn Mama hat sie oft erzählt. Und die Bilder wecken alles wieder.

Mama wurde damals in der Adventszeit von Nonnen unterrichtet. Jeden Morgen, kurz vor Beginn des Unterrichts, lasen sie der ganzen Klasse eine Adventsgeschichte vor. Auf dem Pult stand ein selbstgestaltetes Glas mit einem echten Teelicht. Kein künstliches Licht, keine kleine Batterie, sondern eine echte kleine Flamme, die den Raum warm erhellte. Mama erzählte uns oft, wie ruhig es dann wurde. Die ganze Klasse hörte zu. Es war ein Moment der Stille, ein kleines Ritual, das jeden Tag ein Stück heller machte.

Wir blättern weiter. Auf dem nächsten Foto sehen wir eine festlich geschmückte Innenstadt. Lichterketten ziehen sich über die Straßen, Sterne hängen in den Fenstern und alles wirkt wie in warmes Gold getaucht.

„Mama wusste jedes Jahr sofort, wann die Adventszeit begonnen hatte“, erkläre ich. „Überall brannten Lichter. Die ganze Stadt schien vor Wärme zu leuchten. Und jedes dieser Lichter bedeutete für sie, dass Weihnachten näherkam.“

Tick Tack Oma Elfriede

Wir blättern weiter. Auf der nächsten Seite sehen wir die Krippe unserer Tick Tack Oma Elfriede und unseres Tick Tack Opas Clemens. Die Figuren stehen nicht eng zusammen, sondern wie auf einer kleinen Reise verteilt im Raum.

„Die Figuren wanderten jeden Tag ein kleines Stück näher zur Krippe“, erzähle ich. „Erst an Heiligabend standen sie alle an ihrem Platz. Und davor brannten kleine Kerzen. Es war, als hätte jedes Licht eine eigene Bedeutung.“

Dann erscheint ein Foto von einer geschlossenen Tür. Dahinter stand der geschmückte Weihnachtsbaum. Mama und ihre drei Schwestern durften ihn niemals früher sehen. Erst kurz vor der Bescherung wurde er ins Wohnzimmer gestellt und liebevoll geschmückt, während die Kinder im größten Zimmer warten mussten. Erst das Glöckchen durfte sie hineinrufen.

„Und in der Adventszeit war das Schlafzimmer der Eltern streng verboten“, füge ich hinzu. „Mama hat als Kind nie verstanden warum. Manchmal hat sie heimlich nachgesehen, ob dort etwas liegt, was nicht dorthin gehört. Aber sie fand nie etwas. Es blieb ein Geheimnis. Und ein Stück dieser geheimnisvollen Vorfreude begleitet sie bis heute.“

Wir schlagen eine weitere Seite auf. Dort steht der Nikolaus mit Mitra, Bischofsstab und einem goldenen Buch. Neben ihm stehen Kinder, die ihn mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht ansehen.

„Der Nikolaus war für Mama immer etwas Besonderes“, beginne ich. „Er kam jedes Jahr mit dem Feuerwehrauto.“

Meine Cousinen reißen die Augen auf.

„Wirklich“, lache ich. „Die Feuerwehr fuhr ihn durch das ganze Dorf. Onkel Hermann erzählte jedes Jahr, dass der Nikolaus zuerst kleine Geschenke bei der Feuerwehr abliefert, bevor er weiterfährt. Und jedes Mal behauptete er, er sei selbst auf eine Höhere Töchterschule gegangen. Wir lachen jedes Jahr darüber. Onkel Hermann ist einfach ein Original. Genauso wie Onkel Ecki. Beide gehören zu unserer Familie wie Licht zu Weihnachten.“

Wir blättern weiter. Auf dem nächsten Foto sehen wir eine selbstgebastelte Krippe. Jede Figur ist mit viel Geduld und Liebe gestaltet.

Onkel Ecki

„Diese Krippe hat Onkel Ecki selbst gebaut“, erkläre ich. „Er hat gesägt, geschnitzt, geklebt und jede Figur so gestaltet, wie er sie sich vorgestellt hat. Und jedes Jahr steht wieder eine kleine Kerze daneben. Damit man alles gut erkennen kann.“

Auf einem späteren Foto steht ein kleiner Weihnachtsbaum auf einem Tisch mit einer weißen Decke. Am Rand der Decke hängt eine alte goldene Kette. Die Baumspitze hat eine kleine Kerbe.

„Onkel Ecki hat als Kind einmal in die Spitze gebissen“, erzähle ich. „Ein Stück fehlt. Aber die Familie hat die Spitze jedes Jahr wieder benutzt. Nicht den Baum, aber die Spitze. Früher musste nicht alles perfekt sein. Es zählte, was es bedeutete.“

Wir sehen einen Pappteller vor dem Baum. Darauf liegen Nüsse, Mandarinen, Apfelsinen, grüne Äpfel aus dem Garten, Feigen, Marzipanbrot, Schokoladenautos und vier Schokotaler mit einem goldenen Band. Eine kleine Kerze steht daneben.

„Das war der Weihnachtsteller“, sage ich leise. „Jedes Kind hatte einen. Und es waren jedes Jahr die gleichen Pappteller. Wenn der Teller leer war, gab es nichts mehr. Aber alle freuten sich darauf.“

Ich erzähle weiter, wie Onkel Hermann und Onkel Ecki wochenlang im ganzen Haus nach Geschenken suchten. Überall. Hinter Schränken, unter Betten, in Schubladen. Und wie sie nie etwas fanden. Wieder blättern wir um, und auf dem nächsten Bild sitzt der Tick Tack Opa am Klavier, während Onkel Hermann Flöte spielt. Im Hintergrund brennt natürlich eine Kerze.

Wir blättern weiter und sehen schließlich meine Oma Edeltraut, die Mutter meines Vaters. Eine warmherzige Frau, die ich über alles liebe. Meine kleinen Cousinen kennen sie nur von Bildern.

„Das ist meine andere Oma“, sage ich leise. „Sie gehört zur anderen Seite unserer Familie. Kleiner, aber nicht weniger liebevoll.“

Ich erzähle die Geschichten, die sie uns früher erzählt hat. Wie sie als Kind glaubte, das Christkind sei ein helles Licht. Ihr Bruder Rainer hingegen war überzeugt, es sei ein kleiner grüner Mann. Die Mädchen lachen und rücken noch näher zusammen.

Dann erzähle ich von dem Nikolaus, der bei ihr mit Knecht Ruprecht kam. Und wie im Sack einmal ein Bein herausgehangen haben soll. Eine Freundin behauptete damals, es sei ein Kind darin gewesen. Oma hat nie vergessen, wie sehr sie sich damals erschreckt hat. Und wie wieder irgendwo eine Kerze brannte.

Auf einem anderen Bild sehen wir einen großen Schlitten, der von Pferden gezogen wird, und viele kleine Schlitten dahinter. Oma erzählte, dass sie so im Winter zur Schule gefahren sind. Die Zeitung schrieb jedes Jahr darüber. In einer bestimmten Kurve fiel immer ein Kind aus der Reihe und landete im Schnee.

Dann sehen wir ein Foto von meinem Papa als Baby. Er sitzt im Schnee, eingepackt wie ein kleiner Eskimo. „Das ist Papa“, sage ich. „Sein erstes Weihnachten. Es gab damals riesige Schneemengen und er wollte nicht auf dem Schlitten sitzen, sondern ihn unbedingt selbst ziehen.“

„So wie Mathea“, ruft Liah lachend und alle prusten los.

Auf einer weiteren Seite sehen wir Opa Günter im Schnee, mit einer frisch geschlagenen Tanne. Ich erzähle, dass die Kinder in seiner Familie an Heiligabend draußen spielen mussten, dick eingepackt, während im Haus der Baum geschmückt wurde. Erst am Abend durften sie hinein, sich umziehen und im Flur warten, bis das Glöckchen läutete.

„Schon wieder eine Glocke“, flüstert Emine.

„Ja“, sage ich. „In jeder Geschichte gibt es Licht. Und eine Glocke. Und einen Moment, in dem alle zusammen sind.“

Ich will gerade umblättern, als wir sie hören.

Die echte Glocke. Klar. Warm. Hell.

„Das Glöckchen“, ruft Mathea und springt auf.

Wir alle fahren hoch. Ich schlage den Ordner zu. Ein kleines Staubkorn fliegt auf und glitzert im Lampenlicht, als würden die Bilder darin noch einmal für einen Moment aufleuchten.

Wir rennen zur Tür. Die Treppe, die hinunterführt, ist festlich geschmückt. Lichterketten hängen über den Stufen, Tannenzweige schmücken das Geländer. Der ganze Weg wirkt, als würde er im warmen Licht schweben.

Kurz bleibt Sophia im Flur stehen, um ihre Haare zu richten. Emine stellt sich neben sie und lächelt.

„Heute nicht streiten“, sage ich mild. „Heute ist Weihnachten.“

Wir gehen hinunter ins Wohnzimmer. Oma Mia steht im Türrahmen, ihre Augen leuchten. Die Tanten sitzen auf der Couch. Unter dem großen Baum liegen für jedes Kind kleine Geschenke. Der Baum strahlt in hunderten Lichtern, die Kerzen flackern warm.

Wir packen aus, lachen, zeigen uns gegenseitig unsere Sachen. Es werden Fotos gemacht. Die Musik läuft leise im Hintergrund. Irgendwo brennt eine Kerze und taucht den Raum in sanftes Licht. Alles fühlt sich warm und lebendig an, als würde der Raum selbst atmen.

Als später Ruhe einkehrt, gehe ich zu Oma Mia.

„Oma“, frage ich leise, „woher hast du eigentlich den Ordner mit den Weihnachtsbildern. Dort waren sogar Fotos von Oma Edeltraut und Opa Günter drin.“

Oma runzelt die Stirn. „Welcher Ordner“, fragt sie.

„Der aus dem Kinderzimmer. Adventszeit neunzehnhundertfünfzig bis neunzehnhundertneunzig.“

„So einen Ordner kenne ich nicht“, sagt sie verwundert. „Hol ihn einmal, dann schaue ich ihn mir an.“

Ich gehe nach oben. Das Kinderzimmer ist voller Kissen und Spielsachen, genau wie vorher. Nur der Ordner ist verschwunden. Nicht im Regal. Nicht unter dem Bett. Nicht auf dem Schrank. Er ist einfach weg.

Ich bleibe einen Moment stehen und lausche. Von unten höre ich gedämpfte Stimmen und leise Musik. In meinem Kopf erscheinen die Bilder noch einmal: das Teelicht im Klassenzimmer, die wandernden Krippenfiguren, die goldene Spitze, die Kerzen in der Kirche, der Weihnachtsteller, der Schlittenzug und die Glocken jedes Weihnachtsabends.

Alles ist da.

Vielleicht tauchen manche Dinge nur dann auf, wenn man sie gerade braucht. Vielleicht ist Licht überall, wenn man hinschaut. Vielleicht ist Weihnachten genau das: ein Licht, das weitergegeben wird. Ein Gefühl, das bleibt. Eine Hoffnung, die leuchtet.

Ich gehe zurück nach unten. Mathea nimmt meine Hand.

„Erzählst du mir die Geschichten morgen wieder“, fragt sie leise.

„Ja“, sage ich. „Ganz bestimmt.“

Der Baum leuchtet. Die Kerzen flackern. Und ganz leise, fast wie ein Hauch, höre ich noch einmal das kleine Glöckchen.

Es klingt wie ein Versprechen, das bleibt.

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