Ein Zahnarzt, der Leben verändert: Wilhelm Scheidtmann nutzt seinen Ruhestand, um Menschen in Not zu helfen – von der mobilen Zahnarztpraxis in polnischen Flüchtlingslagern bis zur Hilfe für Wohnungslose in Dortmund. Warum er das tut und was ihn antreibt, lesen Sie hier.
Ein Ruhestand voller Tatkraft
Na klar, hat sich Wilhelm Scheidtmann gefreut, als er Ende 2020 seine Zahnarztpraxis an einen Kollegen übergeben und selbst in den Ruhestand gehen konnte. Auch, um nun das zu tun, was er schon immer gerne gemacht hätte, was aber als Selbständiger mit eigener Praxis nicht möglich war: sich ehrenamtlich für Mitmenschen in Not- oder Ausnahmesituationen einsetzen.
Seitdem fährt der 66jährige an zwei Tagen im Monat nach Dortmund, um Wohnungslose zu behandeln. Mehrmals jährlich fährt er mit einer mobilen Zahnarztpraxis eine Woche lang zu Flüchtlingslagern in Polen an der Grenze zur Ukraine. Darüber hinaus steigt er montags in Haltern mit einem zweiten Helfer in einen LKW, um Lebensmittel für die Tafel abzuholen.
Hilfe für Wohnungslose in Dortmund
„Ich wäre früher gerne des Öfteren für ,German Doctors‘ im Ausland tätig geworden“, sagt der Sythener, „aber dazu hätte ich meine Praxis in Haltern vier Wochen lang schließen müssen. Das ging natürlich nicht.“ Doch kaum war er Rentner, las er in Zahnärztlichen Mitteilungen von dem jungen Kollegen Leonard Müller, der kostenfrei Wohnungslose in Dortmund behandelt und der Unterstützung brauchte.
„Leonard hatte als Schüler im Gast-Haus in Dortmund Sozialhilfestunden geleistet. Dass er sich weiter dort freiwillig engagieren würde, hätte er selber nicht geglaubt“, erfuhr Wilhelm Scheidtmann. Doch irgendwann kam die Erkenntnis, dass es nicht selbstverständlich ist, sich keine Sorgen ums Essen, Unterkunft und medizinische Versorgung machen zu müssen.
Auf Initiative des jungen Zahnarztes stellten sie im Gasthaus einen ausrangierten, aber guten Behandlungsstuhl auf – gleich neben einen gynäkologischen Stuhl. Denn im Gast-Haus Dortmund gibt es inzwischen auch weitere medizinische Notfallhilfen für Menschen ohne Krankenversicherung.
Mit der mobilen Zahnarztpraxis nach Polen
Dann las der Sythener in einer Fachzeitschrift von dem Projekt der Kollegen Dr. Alexander Schafigh und Dr. Armin Reinartz aus dem Rheinland. Die hatten – unterstützt durch Spenden – einen ausrangierten Rettungswagen gekauft, den ihnen der gelernte Anlagenmechaniker und heutige Rettungssanitäter Christian Novoselac aus Ludwigsburg in zehnmonatiger Arbeit zu einer mobilen Dental-Praxis ausbaute – mit Behandlungsstuhl, Kompressor, Absauganlage, Autoklav und allem, was dazugehört.
„Als die Nachricht auf einem Online-Portal veröffentlicht wurde, dass wir in Krakau bedürftige ukrainische Geflüchtete kostenlos behandeln, löste das einen Ansturm an Anfragen aus. Schon am Abend gab es 500 Anmeldungen, am nächsten Tag waren es mehr als 1000“, erzählten die Initiatoren dem ARD-Fernsehen.
Das war im März 2023. Vor Ort merkten sie, dass das polnische Gesundheitssystem nicht ausreicht, die eigenen Landsleute zu versorgen. Da haben die Geflohenen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet erst recht keine Chance. Polen ist neben Deutschland größter Aufnahmestaat der EU für ukrainische Flüchtlinge – und das bei knapp 40 Millionen Einwohnern.
Im April 2023 flog Wilhelm Scheidtmann erstmals für eine Woche nach Krakau. Mit dabei: Gabi Bortz, seine erste Angestellte, nachdem er sich 1992 in Haltern selbständig gemacht hatte und die bis zum Schluss seine Mitarbeiterin geblieben war. „Als ich ihr davon erzählt hatte, hat sie gesagt: Ich komme mit“, berichtet der 66jährige. Sie assistierte ihrem ehemaligen Chef nun auch in der mobilen Zahnarzt-Praxis in Polen. In ihrem Urlaub!
Ein LKW voller Lebensmittel für die Halterner Tafel
Vier Mal war der Sythener in 2023 für je eine Woche dort, dreimal in 2024, befreite ukrainische Flüchtlinge von Zahnschmerzen, zog Zähne, befestigte herausgebrochene Brücken und Kronen wieder, behandelte Abzesse sowie eine enorme Menge an Karies- und Parodontitis-Fällen. Meist gemeinsam mit einem jüngeren oder älteren Kollegen (oder einer Kollegin), wobei der eine behandelt, der andere assistiert. Vorab müssen sie ein „Letter of good standing“ einreichen, also ein Führungszeugnis der hiesigen Zahnärztekammer, auf dass ihnen die polnische Kammer die Erlaubnis erteilt, dort tätig zu werden.
Mit ihrer mobilen Praxis stehen sie entweder auf dem Gelände eines Klosters in Krakau, eines Klosters an der Grenze zur Ukraine, oder sie fahren von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager, schlafen manchmal auch darin, wenn es keine Hotelzimmer gibt. Alles übrigens auf eigene Kosten.
In einer Woche hat Wilhelm Scheidtmann mal nachgesehen, wie viele Patienten er behandelt hatte. Es waren 81 in fünf Tagen. Der Lohn ist große Dankbarkeit. „Ich wusste nicht, wohin mit den Schmerzen“, sagte eine junge Mutter zu einem Reporter-Team, „für uns ist das ein Segen.“
Motivation durch den Glauben
Zudem noch der montägliche Einsatz zum Einsammeln von Lebensmitteln für die Halterner Tafel. Eine Menge Ehrenamt, das die Welt ein wenig besser macht. Woher zieht Wilhelm Scheidtmann die Motivation dazu? „Aus meinem christlichen Glauben. Ich bin überzeugt, dass der zu Gutem führt.“
Franz Kamphaus, der frühere Bischof von Limburg und Bruder des viele Jahre in Haltern tätigen und sehr geschätzten Priesters Hermann-Josef Kamphaus, hat einmal gesagt: „Keiner soll uns weismachen, dass man glücklich würde, wenn man sich nur um sich selbst kümmert.“ Auch das sieht Wilhelm Scheidtmann ebenso.
Weitere ehrenamtliche Helfer/innen werden übrigens in den von Wilhelm Scheidtmann unterstützten Projekten (und in vielen weiteren) gebraucht. Sie sind herzlich willkommen.
Diese Geschichte erschien ursprünglich in der Ausgabe Lokallust Haltern am See Dezember 2024.